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Ein polnischer Zwangsarbeiter, 17 Jahre alt, wurde 1942 von den Nazis hingerichtet. Die Urgroßmutter von Stefan Weger hat damals gegen ihn ausgesagt.

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Transkript
00:00Zwei Familiengeschichten, verbunden durch eines der großen Nazi-Verbrechen, Zwangsarbeit.
00:12Oma hat immer erzählt, dass sie, ihre Mutter und ihre beiden Brüder für 8 oder 10 Reichsmark verkauft wurden.
00:20Tatsächlich muss man festhalten, dass die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus das öffentlichste Massenverbrechen war.
00:27Die Geschichte der eigenen Familie im Zweiten Weltkrieg. Auch 80 Jahre danach ist sie noch häufig unter einem Schleier des Schweigens verborgen.
00:35Niemand will halt der Nazi sein. Niemand will derjenige sein, der dann da steht und sagt, jo, meine Vorfahren haben aber.
00:41Wie kämpfen die Enkel und Urenkel von Tätern und Opfern gegen das Vergessen?
00:57Es ist halt einfach fast noch ein Kind, wenn man sich das so anschaut. Gerade 16. Schon schrecklich.
01:05Stefan Weger mit der Gerichtsakte des polnischen Zwangsarbeiters Valerian Wrubel.
01:09Er war minderjährig bei seiner Hinrichtung 1942, vollstreckt nach dem harten Urteil der deutschen NS-Justiz.
01:17Valerians Geschichte ist auch Teil von Stefans Familiengeschichte.
01:21Es war die Zeugenaussage seiner Urgroßmutter Luise, einer Bauerntochter aus Bremen, die das Schicksal des Jungen mitbesiegelte.
01:28Diesen Menschen, wenn man dem ins Gesicht guckt und dann bei der Polizei gegen ihn aussagt, wissentlich, was mit ihm passieren kann, was mit solchen Menschen im sogenannten Dritten Reich gemacht wurde.
01:43Und das wiegt halt schon schwer.
01:47Vor sieben Jahren beginnt der Fotograf die Rolle seiner Urgroßmutter Luise in dem Fall Valerian Wrubel zu erkunden.
01:53In der Schule hört er zum ersten Mal davon. Die Geschichte lässt ihn seitdem nicht mehr los.
01:57Ich komme nach Hause total aufgewühlt von diesem ganzen Fall und meine Mutter entgegnet mir nur, du weißt schon, dass das Luise war.
02:05Luise, meine Urgroßmutter, damals schon hochbetagt.
02:08Wie sollte diese kleine, gebrechliche Frau einen Anteil daran gehabt haben, dass der Junge hingerichtet wurde?
02:16Ein Schlüsselort, dieses Grundstück am Rande der norddeutschen Stadt Bremen, heute Naturschutzgebiet.
02:22Das ist einer der letzten Teile von dem Hof, die halt wirklich hier auch noch stehen.
02:29Immer wieder besucht der heute 35-Jährige den Ort, an dem seine Urgroßmutter damals lebte und fotografiert ihn.
02:35Die Bilder werden Teil seines Fotobuchs Luise, Archäologie eines Unrechts.
02:38Es ist der Bauernhof, auf den Valerian Wrubel 1941 kommt.
02:43Die Nazis hatten ihn, wie viele andere auch, aus dem von Deutschland besetzten Polen verschleppt, um Zwangsarbeit zu leisten.
02:50Der 16-Jährige muss bei der Landwirtschaft helfen.
02:52Die Bauernfamilie ist unzufrieden. Der Junge sei faul, sein Deutsch schlecht.
02:57Valerian versucht nach wenigen Tagen vergeblich zu fliehen.
03:00Dann gibt es ein Feuer in der Scheune.
03:03Für die Polizei ist der Fall sofort klar.
03:05Der Pole habe den Brand böswillig gelegt. Fast sei der gesamte Hof abgebrannt.
03:11Das Unrecht ist eigentlich zweierlei.
03:13Erstmal, dass Valerian überhaupt als Zwangsarbeiter hier hingekommen ist.
03:18Zwangsarbeit einfach als Form von moderner Sklaverei.
03:22Und das zweite Unrecht, was hier geschehen ist, ist, dass er unheimliches Heimweh gehabt zu haben schien.
03:26Und er in seiner Naivität anscheinend ein kleines Feuer gelegt hat, damit er wieder nach Hause kommt.
03:31Dass er für diese Tat, die nur einen ganz, ganz geringen Schaden hinterlassen hat, dass er dafür tatsächlich hingerichtet wurde.
03:39Fotos vom Tatort zeigen minimale Brandspuren.
03:42Und obwohl der Junge selbst beim Löschen hilft, die Aussagen von Luise und deren Mutter belasten Valerian schwer.
03:48Er muss erst neun Monate in ein Konzentrationslager, wird dann im August 1942 enthauptet.
03:53Es ist exemplarisch, am Fall Luise zu sehen, wie leicht man sich mitschuldig machen kann.
03:58In diesem Fall hätte es ja nicht mal Konsequenzen gehabt, wenn zum Beispiel die Familie einfach gesagt hätte, das war ein Unfall.
04:04Da sind zwei Kerzen umgestürzt. Irgendwas.
04:06So die Möglichkeit zu helfen oder zumindest einen Fall nicht zu verschlimmern, hatten so viele Leute und haben sie nicht genutzt.
04:15Das System Zwangsarbeit im NS-Staat.
04:20Schon ab 1933 verhaften die Nationalsozialisten politische Gegner.
04:25Jüdinnen und Juden sind Hitsi und Romnia, Homosexuelle und andere verfolgte Gruppen und setzen sie zur Zwangsarbeit ein.
04:32Der Überfall auf Polen 1939 als Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert die nächste Stufe des Systems.
04:40Erst kommt die Wehrmacht ins Land, dann die Nazi-Bürokratie. Sie erfasst alle, die arbeitsfähig sind.
04:46Die Nazis sehen die von Deutschland besetzten Gebiete auch als Reservoir an Arbeitskräften.
04:50Neben Kriegsgefangenen verschleppen sie auch Zivilisten ins Deutsche Reich.
04:54Männer, Frauen, Kinder aus ganz Europa.
04:57Rund 8,4 Millionen solcher Ziviler Zwangsarbeitender werden in der Kriegswirtschaft, Industrie und Landwirtschaft ausgebeutet.
05:04Aber auch in kleineren Betrieben oder Privathaushalten.
05:08Tatsächlich muss man festhalten, dass die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus das öffentlichste Massenverbrechen war in dieser Zeit.
05:15Jeder ist ihnen begegnet, als Nachbarn, als Arbeitskollegen, wie auch immer.
05:19Also es gab es nicht, dass man das nicht mindestens gesehen hat.
05:23Und die meisten Deutschen haben das tatsächlich auch, haben gerne davon profitiert.
05:29Daniel Sziatkowski auf dem Weg ins Dorf Wazin, zwei Autostunden südlich von Danzig, im Herzen Polens.
05:36Hier lebte seine Großmutter Felicia.
05:39Sie ist 27, als die Nazis sie 1940 zusammen mit ihrer Mutter und ihren Brüdern von hier ins damalige Reisgebiet zur Zwangsarbeit verschleppen.
05:47Ich vermute, dass meine Großmutter unterschiedliche Gefühle hatte, aber vor allem sicher Angst.
05:56Ich glaube, niemand, der heute in Zeiten des Friedens und des relativen Wohlstands aufgewachsen ist, kann sich wirklich vorstellen, wie das war.
06:04Wenn das Leben, wie man es kennt, plötzlich ein jähes Ende nimmt.
06:08Wenn sich alles verändert und man sich in einer völlig neuen Realität wiederfindet.
06:12Heute wohnt Daniels Cousin Matthäus Mioschikowski in dem Haus.
06:19Nur selten sprach die Großmutter über das, was sie erlebt hatte.
06:24Sie wurden in die Nähe von Kolberg transportiert.
06:27Und nach dem, was Oma sagt, war es so, dass sie dort auf dem Markt verkauft wurden, wie Sklaven.
06:32Sie hat immer erzählt, dass sie, ihre Mutter und ihre beiden Brüder für acht oder zehn Reichsmark verkauft wurden.
06:38Ich wusste das nicht. Das hat mir niemand gesagt.
06:43Wie gesagt, Großmutter sprach von sich aus nie darüber.
06:48Immer wieder fragt Daniel seine Großmutter nach diesem Teil ihres Lebens.
06:52So entsteht über die Jahre ein bruchstückhaftes Bild.
06:55Felicia muss fünf Jahre lang im Landwirtschaftsbetrieb eines Deutschen arbeiten.
06:59Oma hatte recht gute Erinnerungen an diesen Bauern.
07:07Es gab keine Beleidigungen.
07:09Sie wurden nie geschlagen oder als polnisches Schwein beschimpft.
07:13Andere Zwangsarbeiter hatten weniger Glück.
07:191945 nach Ende des Krieges kommt sie frei und kehrt zurück nach Polen auf diesen Hof.
07:25Später zieht sie in die Nähe von Danzig.
07:27Daniel Siedkowski besucht den Friedhof in Bożyn.
07:32Der 43-Jährige hat noch viele offene Fragen, die er seiner Großmutter nie stellen konnte.
07:37So geht es auch vielen anderen Nachfahren der polnischen Kriegsgeneration.
07:43Wissen Sie, nach dem Krieg, nun ja, da wollten die wenigsten Leute ihre Geschichten weiter mit sich herumtragen.
07:48Zurück in Bremen.
07:55Im Landgericht erinnert eine Gedenktafel an Valerian Wrubels Schicksal.
07:59Während der NS-Diktatur verurteilte hier ein Sondergericht den polnischen Zwangsarbeiter als sogenannten Volksschädling.
08:05Valerians Fall gilt als gut dokumentiertes Beispiel für die Gewaltherrschaft der Nazis.
08:11Stefan Weger wollte mit seinem Fotobuch die Rolle der vielen Erfüllungsgehilfen des Systems aufzeigen und ein Kapitel der eigenen Familiengeschichte aufarbeiten.
08:20Man hält es durchaus für wichtig, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen.
08:25Aber niemand will halt der Nazi sein. Niemand will derjenige sein, der dann da steht und sagt, jo, meine Vorfahren haben aber.
08:32Das ist ja auch das Missverständnis. Dadurch, dass ich darüber rede, was meine Vorfahren gemacht habe, werde ich ja nicht zu dem, was sie gemacht haben.
08:41Der Gerichtssaal, in dem seine Urgroßmutter Luise ihre Aussage wiederholte.
08:45Während der Verhandlung sah sie Valerian wahrscheinlich das erste Mal seit seiner Verhaftung wieder.
08:50Auf der Anklagebank. Gezeichnet von neun Monaten harter Arbeit im KZ.
08:55Man stellt sich da natürlich immer vor, wäre das nicht eine schöne Auflösung der Geschichte, wenn man jetzt hier mit ihr sitzt und sie alles bereut.
09:05Und dann irgendwie sagt, Mensch, vielleicht weint und sagt, Mensch, das war alles so schrecklich.
09:10Und ich habe doch dann auch schon gedacht, was haben wir da getan und hätten wir ihn nicht schützen sollen.
09:14Das wünscht man sich natürlich immer.
09:15In Polen geht auch Daniel Sziadkowski auf Spurensuche.
09:21Als Historiker beschäftigt er sich beruflich seit Jahren mit der Geschichte der Zwangsarbeit.
09:26Sein Institut in Danzig verwaltet historische Dokumente über Verbrechen,
09:30die im Zweiten Weltkrieg an polnischen Bürgerinnen und Bürgern verübt wurden.
09:34Aus ganz Polen kommen Menschen hierher, um mehr über das Schicksal ihrer Angehörigen zu erfahren.
09:41Heute stellt Daniel selbst einen Antrag.
09:43Er will herausfinden, ob die Archive noch etwas über seine Großmutter Felicia verraten können.
09:48Oma hat mit wenigen über ihre Geschichte gesprochen.
09:52Man musste sie gezielt fragen, sie hat es nicht einfach so jedem erzählt.
09:56Als ob sie dachte, dass diese Zeiten der Vergangenheit angehören und sie nicht dorthin zurückkehren wollte.
10:04Wie Felicia sprachen die meisten polnischen Überlebenden der Zwangsarbeit kaum über ihre Erfahrungen.
10:09Denn sie kehrten nach Kriegsende zurück in eine tief traumatisierte Gesellschaft, in der es keinen Platz für ihr Leid gab.
10:16Durch den Zweiten Weltkrieg starben rund sechs Millionen Polinnen und Polen, mehr als ein Sechstel der Bevölkerung.
10:22Die allermeisten waren Zivilisten.
10:24Viele Städte und Dörfer wurden von den Nazis zerstört.
10:28Nach Kriegsende gab es von der Bundesrepublik Deutschland für die polnischen Opfer der Zwangsarbeit zunächst keine Entschädigung.
10:33Die zivilen Zwangsarbeiter waren in der Nachkriegszeit nicht als wahre NS-Opfer angesehen,
10:42sondern diese Zwangsarbeit, Deportation, war so eine Art von Begleiterscheinung des Krieges.
10:49Erst ab Anfang der 1990er Jahre gab es mehr offizielle Anerkennung für zivile Zwangsarbeitende durch Deutschland.
10:55Fast 60 Jahre nach Kriegsende erhielten die polnischen Opfer eine einmalige Zahlung, umgerechnet rund 500 bis 2500 Euro.
11:04Viele waren mit der Höhe dieser Leistungen, Entschädigungsleistungen, natürlich nicht zufrieden.
11:11Aber für viele war das wirklich wichtige, symbolische Gäste.
11:16Mit dem Museum für Zwangsarbeit in Weimar hat dieses Kapitel der NS-Geschichte einen weiteren Ort der Erinnerung in Deutschland.
11:23In einer Sonderausstellung zeigt Stefan Weger die Bilder über seine Urgroßmutter.
11:28Das Museum bietet Recherche-Workshops zum Thema historische Familienforschung zur NS-Zeit an.
11:34Auch 80 Jahre nach Kriegsende ist in Deutschland die Nachfrage nach solchen Angeboten hoch.
11:39Nicht wenige wollen, so wie Stefan Weger, die eigene Familiengeschichte erforschen.
11:43Der Generationenabstand ist nochmal größer.
11:46Und dadurch besteht halt auch eine ganz neue Chance, sich halt wirklich auch nochmal vorurteilsfrei mit dieser Generation auseinanderzusetzen.
11:53Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die junge Menschen für die Geschichte sensibilisieren könnten.
12:00Wenn in den Familien nicht mehr darüber gesprochen wird, können weder die Schulen noch wir als Institut diese Lücke schließen.
12:06Was aus der heutigen Sicht halt wahnsinnig wichtig ist, dass man darüber nachdenkt, was ist denn unsere historische Verantwortung?
12:16Und wie können wir auch darauf achten, dass bestimmte Sachen sich nicht wiederholen?
12:20Und wie können wir uns bereits da und dann immer wiederholen?
12:29Und wie können wir uns da?

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